, NZZ Lena Schenkel

Doris und die Zünfter: Wie eine Musikantin das Zürcher Sechseläuten erlebt

 

Doris Epprecht bringt Menschen zum Blutspenden und kriegt im Restaurant meistens den besten Tisch. Am Sechseläuten aber tanzt sie seit 33 Jahren nach der Pfeife der Zünfter.

Doris Epprecht (rechts mit Klarinette) und ihre Kollegin machen sich bereit für den Umzug. (Bild: Nathalie Taiana / NZZ)

Dunkle Wolken brauen sich über der Zürcher Bahnhofstrasse zusammen und Doris spürt schon den ersten Tropfen im Gesicht. «Furchtlos und treu!» steht auf den Notenblättern über ihrer Klarinette im «Regen-Pariser». Es ist 16 Uhr am Sechseläutenmontag, und Doris und die anderen Musikanten sind bereit zum Einmarsch in den Zug. Regen ist jetzt das Letzte, was sie brauchen können. Zwar tragen alle eine Pelerine am Gurt – aber die soll wenn irgend möglich dort bleiben. Auch Sonnenbrillen sind tabu. So will es die Zunft.

Doris’ Sechseläutentag hat um 10 Uhr 15 im Hotel Widder im Zürcher Augustinerquartier begonnen und wird dort nicht vor 1 Uhr nachts enden. Dazwischen steht sie mindestens zwölf Stunden stramm oder marschiert im Gleichschritt, während sie ihrer Klarinette die richtigen Töne entlockt und dabei versucht, nicht auf Pferdemist zu treten (oder bis noch vor zwei Jahren: keinen toten Fisch an den Kopf zu kriegen). Warum tut sie sich das an, Jahr für Jahr – und nimmt dafür sogar noch einen Tag bei der Arbeit frei? Doris lacht. «Das frage ich mich manchmal auch!»

Doris Epprecht ist 52 Jahre alt, gelernte Pharma-Assistentin, zweifache Mutter, Ehe- und Hausfrau, langjährige Schulpflegerin und stellvertretende Bereichsleiterin im Spenderbüro des Zürcher Blutspendedienstes. In Schlieren geboren, aufgewachsen und immer noch wohnhaft. Eine Zünfterin darf Doris als Frau nicht sein. Trotzdem wirkt sie seit 33 Jahren an jedem Sechseläuten mit – als Musikantin des Musikvereins Harmonie Schlieren (MHS). Das sinfonische Blasorchester feiert heuer sein 50-jähriges Jubiläum als Zunftspiel der Zunft zum Widder, der 1336 gegründeten Zürcher Metzgerzunft.

 

Der Sechseläutentag beginnt für die Musikanten schon mit dem Platzkonzert auf dem Münzplatz. Dort spielen sie auch modernere Stücke wie «Happy» oder «Ghostbusters». (Bild: Nathalie Taiana / NZZ)

Zur Musikharmonie kam Doris wie zur Klarinette und zum Sechseläuten: nicht mit Vorsatz. Die ältere Schwester spielte in der Jugendmusik, also wollte sie auch. Dort hatte sie die Wahl zwischen Blech, Querflöte und der Klarinette. Wer aus der Schlieremer Jugendmusik herauswächst und sich nicht doch noch für den Turnverein entscheidet, macht in der Musikharmonie weiter – und die spielt eben am Sechseläuten. Als Sekundarschülerin habe sie den Widder-Zunftmeister einmal für einen Vortrag interviewt. «Per exgüsee» habe sie ihn dann «ganz scheinheilig» gefragt, ob es denn auch für Auswärtige möglich sei, mitzulaufen. Sie und ihre Freundin seien in diesem Jahr die wohl stolzesten Blumenträgerinnen gewesen – «obwohl wir rückblickend grauenvoll aussahen in Tracht».

Doris ist eine, die andere innert Minuten für sich einnimmt. Sie kriegt auch Blutspender am Telefon dazu, kurzfristig zum Spenden vorbeizukommen, wenn Not am Mann ist. Und wenn sie im Restaurant reserviert, wünscht sie ganz charmant den besten Tisch – und bekommt ihn meist auch. In Gesellschaft blüht der blonde Lockenkopf auf. «Die Autogrammkarten habe ich schon gedruckt», kommentiert sie beim Mittagessen das Klicken der Fotografin. So andächtig wie an der Klarinette sieht man Doris selten. An der Musik schätzt sie vor allem das Gemeinsame: das Musizieren genauso wie die Skiweekends in Davos.

Das Sechseläuten wird zur Familiensache: Tochter Livia und Sohn Fabian, auch sie beide in der Jugendmusik gross geworden, sind ebenfalls mit dabei. Sie als Mitglied an der Querflöte, er als Aushilfe bei den Perkussionisten. Die Tambouren der Stadtzürcher «Drumtasticks» hat der MHS fürs Sechseläuten engagiert. Für mehr Wumms – und Verschnaufpausen für die Bläser. Ist die Familie Epprecht eine, die abends auch einmal gemeinsam im Wohnzimmer musiziert? «Ui nein», sagt Doris. Sie übe am Wochenende jeweils allein, anderthalb Stunden am Stück – so seriös sei sie dann schon.

Der angesagte Regen blieb aus. Ihre Klarinette hat Doris trotzdem schon mal geschützt. Flösse Wasser ins Instrument, müsste sie es danach in Revision bringen.
(Bild: Nathalie Taiana / NZZ) 

Wer sind diese 23 Frauen und 29 Männer, die sich mindestens einmal wöchentlich der Musik widmen, neben Job, Familie und anderen Hobbys? «Wir könnten ein halbes Dorf versorgen», sagt Doris: Sie hätten Schreiner und Elektriker, Juristen und Bürolisten sowie Allgemein- und Zahnärzte. Livia ist mit 21 die Jüngste. Edi, der Älteste, ist 85. Nachwuchsprobleme kennt der Verein nicht. Das liege auch am Dirigenten, sagt der Präsident, Marco Lucchinetti. Die Jungen schätzten sein Repertoire, das eben nicht nur aus traditionellen Märschen bestehe. In den Festzelten sei er der geborene Entertainer, sagt Doris. Dass Tobias Zwyer auch ein attraktiver junger Mann ist, den die Frauen im MHS und im Publikum gerne ein wenig anhimmeln, dürfte der Strahlkraft des Vereins ebenfalls nicht abträglich sein.

Beim Mittagessen im Hotel Widder steht die Kellnerin mit einer Platte Nierchen am Tisch. Es gibt Zürcher Geschnetzeltes. «Soll ich euch jetzt erklären», fragt Doris’ Tischnachbar Daniel, «wie die Nieren funktionieren?» Doris wirft ihm einen gespielt bösen Blick zu und sagt trotzdem Ja zur Kellnerin. «Die sind aber wirklich fein diesmal», sagt sie. Das Menu ist jedes Jahr dasselbe. Es ist das gleiche wie das der Zünfter, zwei Etagen tiefer, im Zunftsaal. Es sei nicht selbstverständlich, sagen die Musikanten, aber «ihre» Zünfter behandelten sie sehr gut. Früher spielten sie auch während deren Mittagessen Bankettmusik, jetzt spielen sie nur noch davor und danach für die Zünfter auf.

Auch das Dessert ist dem Anlass entsprechend präsentiert. (Bild: Nathalie Taiana / NZZ)

Auch das Dessert ist dem Anlass entsprechend präsentiert. (Bild: Nathalie Taiana / NZZ)

Wie Hühner auf der Stange reihen sich die Musikantinnen und Musikanten der Wand des Zunftsaals entlang auf. An den langen Bankettreihen in der Mitte sitzen nur Männer. Zünfter, deren Gesellen und Ehrengäste in dunklen Anzügen oder rot-weissen Metzgertrachten. Zum Schweizerpsalm erheben sich aber alle und singen aus voller Brust mit. Zunftmeister Georg Steiger, der Mann am längsten Tisch mit der goldenen Kette am Hals und Regierungsrat Mario Fehr zu seiner Linken, bedankt sich und schenkt dem MHS zum Jubiläum eine neue Fahne. Vereinspräsident Lucchinetti bedankt sich für die Ehrung «zur goldenen Hochzeit». Die Zunft habe sich mit dem MHS vor 50 Jahren sicher «die schönste, beste und grösste Braut» geangelt. Umgekehrt biete die historische Zunft zum Widder alles, was sich eine solche wünschen könne: ein gutes Zuhause, Grandezza und Generosität.

Auch wenn die Kinder der Zünfter nach dem Mittagessen – angeführt vom Bär, einem der drei Ehrenzeichen der Zunft zum Widder – auf einen kleinen Umzug gehen, sind die Musikanten in deren Schlepptau. (Bild: Nathalie Taiana / NZZ)

Auch wenn die Kinder der Zünfter nach dem Mittagessen – angeführt vom Bär, einem der drei Ehrenzeichen der Zunft zum Widder – auf einen kleinen Umzug gehen, sind die Musikanten in deren Schlepptau. (Bild: Nathalie Taiana / NZZ)

Doch, es gebe einen Moment, an dem sie die Zünfter beneide, sagt Doris: Wenn diese schon beim Bier sässen und sie und die anderen nach einem Vierzehnstündertag immer noch musizierten. Ein Glas Wein sei gut für die Zunge, sagt einer ihrer Kollegen, aber mehr nicht. Schliesslich wollen sie die richtigen Töne auch dann noch treffen. «Aber je höher der Pegel bei den Zuhörern», schiebt er nach, «desto lieber mögen sie unsere Musik.» Um 0 Uhr 30 ist für die Musikanten Feierabend, und es gibt Bier und Wurst. Wenn ihre Kinder dann gegen 2 Uhr in der Früh weiter ins Kaufleuten zur Afterparty ziehen, setzt sich Doris ins Taxi Richtung Schlieren. Ihren grossen TV-Auftritt, den ihr Mann Ralf jeweils daheim für sie aufzeichnet, wird sie sich erst am nächsten Tag ansehen.